Warum ein MES-Projekt Change Management braucht

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Eine MES-Software mit integrierter Advanced Planning und Scheduling-Funktion plant und steuert automatisch, wenn man sie lässt. Und das kann der entscheidende Punkt sein: In vielen Fällen entfaltet ein neu eingeführtes MES seine Leistungsfähigkeit nicht, weil Unternehmen in gängige Stolperfallen tappen. Betrachtet man die Aufgabenfelder eines MES-Systems, wie sie z.B. in der VDI-Richtlinie 5600 definiert sind, wird schnell klar, dass hier unterschiedliche Systematiken miteinander interagieren und mehr als ein Organisationsbereich des Unternehmens involviert ist.In der Regel wird das MES-System nicht zur Abdeckung aller Aufgabenfelder eingesetzt. So wird z.B. das Auftragsmanagement mit Stücklisten, Arbeitspläne, Disposition und Generierung von Fertigungsaufträgen mit Fertigungs-Arbeitsplan sowie -Stückliste üblicherweise durch das ERP-System abgedeckt. Die Daten des ERP-Systems müssen im MES korrekt interpretiert und verarbeitet werden, damit das Produktionssteuerungssystem seine Vorteile ausspielen kann. Die Aufgabenfelder Feinplanung und Feinsteuerung gehören zu den Kerndomänen eines MES. Eine systemgestützte und korrekte Planung, möglichst ohne manuelle Eingriffe, ist oftmals einer der Hauptmotivatoren für die Integration einer MES-Software. Firmen wollen jederzeit über eine realistische Reihenfolgeplanung und Belegungspläne mit haltbaren Lieferterminen verfügen. Anders als bei manueller Planung wird das MES alle Aufträge ohne zeitliche Limitierung betrachten und entsprechend einplanen. Diese Systematik sowie Planungsergebnisse lösen bei Anwendern, die bisher hauptsächlich manuell und mit Excel geplant sowie gesteuert haben, zunächst spürbare Skepsis aus. Die Planungsergebnisse des Systems werden angezweifelt.

Voraussetzungen für automatische Planung

Weiter sind in den Unternehmen parallel zur Einführung einige Voraussetzungen zu erfüllen, damit das MES seine Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen kann. Für eine realistische Reihenfolge-Planung der Aufträge unter Berücksichtigung der verfügbaren Ressourcen müssen vollständige und stimmige Fertigungs-Arbeitspläne sowie -Stücklisten vorliegen. Dabei ist darauf zu achten, dass der Auftragsdurchlauf vollständig im Fertigungs-Arbeitsplan abgebildet ist und die Fertigungs-Stückliste nicht nur die Bedarfsmaterialien je Arbeitsgang mit der erforderlichen Stückzahl enthält, sondern auch die benötigten Werkzeuge. Zudem sind korrekte Soll-Vorgabenzeiten für Rüst-, Bearbeitungs- und Personalzeiten erforderlich. Ohne exakte Kapazitätsangaben für die zu planenden Ressourcen wie Schichtzeiten der Arbeitsplätze, Material-, Werkzeug- und Personal-Verfügbarkeit als Engpass-Ressourcen, lässt sich keine exakte Planung realisieren. Und dann stellt sich die Frage, wo die relevanten Daten vorgehalten und der Planung als jeweils freie Verfügbarkeiten zur Verfügung gestellt werden. Ist dies nicht der Fall, stößt das MES schnell an seine Grenzen.

Wunsch und Wirklichkeit bei der Datenqualität

Zu Beginn einer MES-Einführung sind die meisten Unternehmen sicher, die erforderlichen Daten in der entsprechenden Qualität zu liefern. Ein erster Planungslauf zeigt dann meist ein ernüchterndes Ergebnis und die Suche nach Abweichungsgründen liefert unterschiedliche Ergebnisse. Vielfach ist die Zuordnung von Arbeitsgängen zum Arbeitsplatz nicht korrekt oder Planvorgaben bei Neuanschaffungen wurden nicht angepasst. Oder Arbeitspläne weisen nur Maschinengruppen und keine Einzelmaschinen aus, wie es erforderlich wäre. Nicht selten berücksichtigt die Materialverfügbarkeitsprüfung keine Reservierungsbestände. Oder Aufträge werden nicht priorisiert, denn nur der Liefertermin reicht in der Regel nicht aus. Ebenso findet sich in einigen Projekten eine unzureichende Datenbasis etwa bei der Abbildung einer überlappenden Fertigung oder des Werkzeug- oder Personalbedarfs.

Künstliche Intelligenz hilft aus

Einige dieser Versäumnisse kann ein MES im Standard-Funktionsumfang meist ausgleichen. Hierzu zählt die Anpassung von Plan-Vorgabezeiten bei der Verplanung. Bei anderen genügen so einfache Korrekturen nicht, um das gewünschte Ergebnis zu erhalten. Hierzu zählen die Priorisierung der Aufträge oder die bestmögliche Zuordnung des Arbeitsgangs auf die richtige Einzelmaschine aus der Maschinengruppe. Es gibt jedoch KI-gestützte MES-Software auf dem Markt, die auch solche Stolpersteine recht schnell automatisch beseitigen kann. Die KI kann geeignete Einzelmaschinen aus der Maschinengruppe identifizieren, dem Arbeitsgang zuordnen und dem Planungssystem zur Verfügung stellen. Ebenso wäre eine Korrektur der Planzeit-Vorgaben möglich, um die Planungsergebnisse zu verbessern. Um solche KI-Funktion zu nutzen, müssen Modelle anhand von Daten aus der Vergangenheit trainiert werden. Sind diese nicht verfügbar, können sie über eine zeitnahe Erfassung der Rüst- und Bearbeitungszeiten aus der Produktion ermittelt werden. Das dauert jedoch.

Maschinenanbindung gut vorbereiten

Um Werkern zuviele Dateneingaben zu ersparen, aber auch bedingt durch die Industrie 4.0-Diskussion, wird oft die automatisierte Datenerfassung über eine Maschinenanbindung gefordert. Dabei wird oft übersehen, dass ein weiteres Komplexitätsfeld eröffnet wird, für das bestimmte Voraussetzungen zu schaffen sind. Dazu gehören folgende Fragen: Verfügt die Maschine über die Kenntnis, welchen Fertigungsauftrag sie gerade bearbeitet, zählt sie die gefertigte Stückzahl oder meldet sie ein Taktereignis, ist sie in der Lage, die Rüstzeit korrekt zu melden, verfügt sie über eine Datenschnittstelle (z.B. OPC UA) und wenn nicht, kann diese nachgerüstet werden? Nicht nur mittelständische Unternehmen stoßen hier schnell an ihre Grenzen, auch in Bezug auf das Budget.

Der Blick zurück stoppt die Euphorie

Nachdem ein MES implementiert wurde, stellt sich nach anfänglicher Euphorie oftmals Ernüchterung sein. Diese Desillusionierung hat in der Regel nichts mit dem System zu tun. Oft liegen die Gründe im Zusammenspiel der Organisationseinheiten und in der mangelhaften Systemnutzung. Nicht selten welchseln die Beteiligten nach kurzer Zeit wieder auf alte Verhaltensmuster. Halten sich die Beteiligten etwa nicht an die geplante Auftragsreihenfolge, lösen sie damit dieselben Effekte wie vor der Systemeinführung aus. Menschlich betrachtet ist es verständlich, schließlich folgen alle dem bekannten Muster. Planerisch ist das eine Katastrophe, zumal das MES Verzögerungen oder Unterbrechungen sofort aufdeckt.

Nur Software reicht nicht

Die Einführung eines MES allein reicht also nicht aus, will eine Firma alle positiven Effekte erzielen, müssen in der Organisation gezielte Veränderungen vorgenommen werden. Deshalb sollten die vorhandenen Prozesse neu justiert werden. Ansonsten sinkt womöglich die Akzeptanz des Systems und die ursprünglichen Kritiker und Zweifler gewinnen wieder die Oberhand. Spätestens jetzt wird sichtbar, dass es sich bei der Einführung eines MES-Systems um ein klassisches Changemanagement-Projekt handelt, bei dem auch das Management mit eingebunden werden muss. Die Einhaltung der gemeinsam beschlossenen Rahmenbedingungen muss überwacht und eingefordert werden, auch im Management selbst. Die neue Arbeitsweise erfordert ein Umdenken in allen Ebenen.

Autor:

Gerd Rücker ist Leiter Vertrieb/CSO bei der Becos GmbH







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