Im Bild, Sascha Wasse, Management Consultant PLM bei NTT Data Deutschland GmbH. Bild: NTT Data Deutschland GmbH

Unterschiedlicher Einfluss

Je nach Modell ist der Einfluss des eigenen Unternehmens auf Aufbau und Ausgestaltung der Zusammenarbeit und die internen Abläufe unterschiedlich ausgeprägt. Hat das Unternehmen bei einer 100-prozentigen Tochter noch die komplette Kontrolle, nimmt dies bei Joint Ventures und Kooperationen deutlich ab. Es kommt ein lokales Selbstverständnis und Selbstbewusstsein hinzu, mit der die mehr oder weniger intensive Beteiligung bei Entscheidungsprozessen verbunden ist. Eine reine Delegation von Arbeitsinhalten, sei es im Fachbereich oder in der IT, ist in der Regel nicht erfolgversprechend, weil die lokalen Rahmenbedingungen, Anforderungen und Vorstellungen unzureichend berücksichtigt werden. Beim Aufbau von Joint Ventures kommt zusätzlich zum Tragen, dass es eine ausgeprägte Identifikation mit dem neuen Unternehmen gibt, das sich als eigenständige Einheit versteht. Bei der Ableitung und Übertragung von Geschäftsprozessen und IT-Lösungen auf nationale Entwicklungsstandorte sind zahlreiche Einflussparameter zu berücksichtigen. So zum Beispiel:

  • Geplanter Kompetenzaufbau und Abdeckungsgrad des Produktentwicklungsprozesses: beispielsweise Entwicklung von ganzen Fahrzeugmodellen versus Komponentenentwicklung, Fokussierung auf Geometrieanteile versus Antriebstechnologien
  • Geplante Größe des Entwicklungsstandortes: beispielsweise Anzahl der Ingenieursarbeitsplätze
  • Strategische Zielsetzung: Kompetenznachweis im gesetzlich notwendigen Rahmen oder gezielte Kapazitätserweiterung
  • Sicherheitsbewertung des Standorts: gesellschaftspolitische Sicherheit und Informationssicherheit
  • Aktuelle Befähigung der konzerneigenen IT-Landschaft: sie muss die Kooperationen auf unterschiedlichen Ebenen sowie die rechtlichen und vertraglichen Rahmenbedingungen unterstützen können

In den letzten Jahren war beim organisatorischen und IT-technischen Aufbau von lokalen R&D-Zentren Verschiedenes zu beobachten. So waren die inhaltlichen und zeitlichen Vorstellungen der Fachbereiche im ersten Schritt oft nicht ausreichend belastbar, um prozessuale und IT-technische Festlegungen fundiert zu treffen. In der Folge wurden Lösungen gefunden, die manchmal nur als Übergangslösungen dienten und später gegen tragfähigere Lösungen ersetzt werden mussten. Die etablierten Fachbereiche des Stammhauses gingen hinsichtlich Skalierung und prozessualem und IT-technischem Lösungsangebot vom ihnen bekannten Umfeld aus. Oft ist aber das mittelfristig sinnvollere ‚Downsizing‘ von Prozessen und IT-Lösungen zunächst mit Unsicherheiten und höherem Aufwand verbunden. Die Geber der Anforderungen, sind häufig nicht zugleich Abnehmer der bereitgestellten Leistungen. Hier ist eine bilaterale Kommunikation, die Entsendung von Expatriates und die Schaffung einer vertrauensbasierten Zusammenarbeit probates Mittel, die Akzeptanz und Adaption der Lösungen sicherzustellen. Das Selbstverständnis eines Automotive-Erstausrüsters als zentrale Macht sollte sich zu einem kooperativen Verhältnis wandeln, wo Einheiten des Stammhauses auch als Enabler und Dienstleister für das neu geschaffene R&D-Zentrum auftreten.

Umbau der Stammhaus-Systeme

Der Aufbau lokaler IT-Lösungen für den neuen Entwicklungsstandort führt in der Regel auch zum Umbau der etablierten Stammhaus-Systeme, weil diese den neuen Formen der Informationsverteilung, den Anforderungen der Informationssicherheit und dem Schnitt der Prozesse und Verantwortlichkeiten oft nicht mehr gerecht werden. Insgesamt führt dies dazu, dass die gesamte Landschaft hin zur besseren Unterstützung kollaborativer Produktentwicklung reift. Auch wenn diese Aufbauprojekte zunächst stark operativ und durch die zeitlichen Rahmenbedingungen geprägt sind, tritt in zunehmendem Maße der Wunsch in den Vordergrund, allgemeine Leitlinien, eine höhere Wiederverwendbarkeit und ein Regelwerk zur Ableitung und Dimensionierung von Lösungen für ähnliche Initiativen in der Zukunft in die Hand zu bekommen. Folgende Aspekte lassen sich hierzu identifizieren:

  • ‚Top down‘- und ‚Bottom-up‘-Aufwandsabschätzung mit unterschiedlicher Granularität
  • Zusammenarbeitsmodell ‚Fachbereich, Prozessmanagement, IT‘
  • Projektvorgehensmodell, -organisation und -initialisierung
  • Scoping und Detaillierungsgrad der Fachprozesse
  • IT-Lösungsbausteine für die jeweiligen Prozessabschnitte und fachlichen Kompetenzen, beispielsweise mit definierten Datenaustauschszenarien und -wegen oder auch Hub-Lösungen für die zentrale Bereitstellung sensibler Daten mit Entkopplung und Abschottung der kritischen Stammhaussysteme
  • Methoden zum Rollout und Betrieb von Applikationen mit Übertragung der Betriebsverantwortung auf den neuen Standort
  • Aufbau eines differenzierenden Wartungsmodells für die übergreifende Applikationslandschaft, beispielsweise mit für alle Stellen transparentem Zugriffs- und IP-Management der Fremdzugriffe auf die Stammhaussysteme oder kooperativer Wartung und Weiterentwicklung für selbstentwickelte Anwendungen

Muster und Modelle

Auch wenn jede zukünftige Initiative für den Aufbau weiterer Entwicklungsstandorte oder die fortschreitende Dezentralisierung der Entwicklungsleistung eigene Aspekte bringen wird, so werden sich in den nächsten Jahren wohl bei allen namhaften Automotive-Erstausrüstern Muster, Vorgehensmodelle und wiederverwendbare Bausteine ausprägen, die zu einer schnelleren, kostengünstigeren und weniger risikobehafteten Bereitstellung von Lösungsangeboten seitens Prozess und IT führen wird. Im gleichen Zuge schreiten die Befähigung und Absicherung der eigenen IT-Landschaft und Daten im Kontext zunehmender Kooperation und Kollaboration voran.