MES-Rollout bei Endress+Hauser

Gemeinsam und agil ins Ziel

‚Never touch a running System‘ oder ‚Wenn du merkst, dass du ein totes Pferd reitest – steige ab!‘ – auf Unternehmenssysteme bezogen, zeigen die Sprichwörter auf den schmalen Grat zwischen solidem Bestandssystem und veralteten Legacy-Anwendungen. Auf das eigenentwickelte MES bei Endress+Hauser Temperature+System Products traf seit einiger Zeit eher das zweite Sprichwort zu. Es wurden Funktionen aufwendig integriert, die im Markt längst zum Standard zählen. Daher zogen IT-Abeilung und Produktion an einem Strang, um in einem agilen Projekt auf SAP Manufacturing Execution zu wechseln.

 (Bild: Trebing & Himstedt Prozessautomation)

(Bild: Trebing & Himstedt Prozessautomation)

Agil zum Ziel

Wie der Pfad der Implementierung verlaufen sollte, war auch relativ schnell klar. „Wir hätten jetzt zwei Jahre programmieren können, doch war uns auch schon damals klar, am Ende hätte es nicht funktioniert“, sagt Romana Walk, Squad Lead MES, „wir wollten das Projekt gemeinschaftlich mit dem Produktionsbereich auf agile Art und Weise weiterentwickeln.“ Das Konzept bestand darin, dass jeweils in einem Release-Zyklus innerhalb von zwei Sprints ein nutzbares Ergebnis für den Fachbereich bereitgestellt wird. „Die Zusammenarbeit mit dem langjährigen Partner Trebing + Himstedt war ein weiterer Erfolgsfaktor, um das ambitionierte Ziel zu erreichen, da sich schnell ein echtes ‚Wir-Gefühl‘ einstellte und die agilen Arbeitsweisen beider Unternehmen perfekt harmonisierten“, so Romana Walk weiter.

Traceability entlang der Elektronikfertigung

Ein großer Treiber für das Projekt war unter anderem die Traceability, also die Rückverfolgbarkeit. Um in den Sprintzyklen konsequent Ergebnisse zu erzielen, wurde der Projektplan stringent entlang der Wertschöpfungskette erstellt, in der die Daten für die Rückverfolgbarkeit erhoben werden. Wären die Verantwortlichen später im Prozess eingestiegen, um beispielsweise die einfacheren Projekte vorzuziehen, würden relevante Traceability-Daten fehlen und den angestrebten Projektnutzen schmälern. Somit ergaben sich die Meilensteine entlang der Wertschöpfungsstufen: Etikettieren der Leiterplatten, SMD- und THT-Bestücken, Lackieren und den Testszenarien der Qualitätssicherung. Auch dann begann die IT-Abteilung nicht sofort, die geplanten Projekte umzusetzen. Denn in solchen Softwareinititativen sind die Begriffe Akzeptanz und gegenseitiges Verständnis keine Phrasen, sondern weisen auf wichtige Merkmale für den Projekterfolg hin.

Wenn Produktion und IT zusammenarbeiten, um Legacy-Systeme abzulösen, ist der Weg frei für eine dynamische IT-Landschaft. (Bild: Trebing & Himstedt Prozessautomation)
Wenn Produktion und IT zusammenarbeiten, um Legacy-Systeme abzulösen, ist der Weg frei für eine dynamische IT-Landschaft. (Bild: Trebing & Himstedt Prozessautomation)

Gegenseitiges Verständnis im Team hergestellt

Wie die Schlagworte beim Elektronikhersteller mit Leben gefüllt werden, zeigte sich auch im Umgang der IT und der Fertigung miteinander. In ihren Gesprächen war es allen Teilnehmern wichtig, dass die Gegenüber verstehen – oder eben verstehen wollen – woran es im Verständnis manchmal mangelt. „Mit meiner Produktionsbrille sind einige Maschinen beispielsweise austauschbar, weil sie ein gleiches Produktionsergebnis erzeugen, aus IT- und Prozesssicht kann das etwas ganz anderes sein“, sagt Robert Weber, Head of Minifactory Electronics. Hier wurden einige Lernkurven gemeinsam hingelegt. Ein wichtiger Erkenntnisprozess, der ein Team mit einem gemeinsamen Ziel zusammenschweißt. Die Ergebnisse werden in Prozessschaubildern für alle verständlich festgehalten. Wobei dieses Solutions Design zunächst nur 80 Prozent des Zielbildes darstellt, denn mehr braucht es zum Start nicht. Vor allem das Festhalten aller Sonderabläufe würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Im Rahmen der agilen Methodik werden die restlichen 20 Prozent zur passenden Zeit definiert und nicht schon zu Beginn. Das entzerrt und beschleunigt das Projekt insgesamt. Als zusätzlicher Beschleuniger wirkt die gemeinsame Priorisierung von Aufgaben, immer mit dem Blick auf die Faktoren, die unmittelbar relevant für den Rollout sind und was aktuell zur Fehlerbehebung nötig ist. Das geschieht auch, um die Akzeptanz zu erhöhen, wenn möglicherweise eine Sonderfunktion noch nicht in diesem oder nächsten Release verfügbar ist.

Akzeptanz für das neue System

Insgesamt nehmen die Projektverantwortlichen eine hohe Akzeptanz im Unternehmen wahr, auch wenn für den Übergang eine Doppel-System-Strategie gefahren wurde und somit viele Eingaben in zwei Systemen vorgenommen werden mussten. Auch vermissen einige, wie mit einem Augenzwinkern angemerkt wird, dass nicht mehr mal eben so am System vorbei gearbeitet werden kann. Die Bedeutung von Stammdaten wird heute viel höher als früher eingeschätzt. „Bis dato mussten Incidents durch Änderungen im Code oder in der Datenbank gelöst werden. Heute können Stammdaten in Standard-SAP-Transaktionen ergänzt oder korrigiert werden“, erläutert Konstantin Petruch, Head of Division Information Technology. „Diese können meist unsere neu implementierten Key-User auch ohne Informatikkenntnisse beheben“, so Konstantin weiter.

 Bei Endress+Hauser Temperature+System Products entstehen Temperaturmessgeräte und damit verbundene Systeme. Die Produktions-IT trägt dazu bei, anfallende Tätigkeiten wirtschaftlich auszuführen. Die Montagearbeitsplätze sind links, einige fertige Produkte rechts im Bild zu sehen. (Bild: Trebing & Himstedt Prozessautomation)
Bei Endress+Hauser Temperature+System Products entstehen Temperaturmessgeräte und damit verbundene Systeme. Die Produktions-IT trägt dazu bei, anfallende Tätigkeiten wirtschaftlich auszuführen. Die Montagearbeitsplätze sind links, einige fertige Produkte rechts im Bild zu sehen. (Bild: Trebing & Himstedt Prozessautomation)

Fehler will niemand machen

Erfahrene Mitarbeitende brauchen in der Regel etwas länger, um die penible Datenerfassung zu verstehen, denn diese Personengruppe ist insgesamt weniger auf die Produktionsunterstützung angewiesen. Doch sobald die Prozessverriegelung auch bei diesen Fachkräften die Konsequenzen eines schwerwiegenden – und vermeidbaren – Fehlers abgewendet hat, dürfte der Systemnutzen ganz anders als zuvor eingeschätzt werden. Daran soll weiter gearbeitet werden. Die nächsten Ziele aus Fachbereichssicht sind eine noch sicherere Prozessverriegelung, um die internen Verschrottungskosten weiter zu reduzieren. Darüber hinaus soll im Hintergrund mehr automatisiert erfasst werden, um Interaktionen zu reduzieren und Werkerinnen und Werker weiter zu entlasten. Ganz oben auf der Wunschliste steht außerdem, die Daten noch besser zu nutzen, um mehr Transparenz in Richtung Maschinenauslastung herzustellen. Und was wünscht sich die Produktions-IT? „Dass die Produktion zufrieden ist“, schließt Romana Walk. Da ist es wieder, das Wir-Gefühl.

 Aufgeräumte Systemoberflächen führen Mitarbeitende durch die nötigen Eingaben. (Bild: Trebing & Himstedt Prozessautomation)
Aufgeräumte Systemoberflächen führen Mitarbeitende durch die nötigen Eingaben. (Bild: Trebing & Himstedt Prozessautomation)
Trebing & Himstedt Prozeßautomation






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